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Spuren und Physiologieabfrage, Modul 2, Teil 3

Ein kurzer Blickkontakt. Ein Lächeln. Dann senke ich wieder den Blick und richte ihn auf die Unterlagen vor mir auf dem Tisch. Doch ich kann dem Impuls nicht widerstehen, mein Blick folgt ihm. Bereits wenige Momente später sollen sich unsere Blicke wieder treffen. Das Lächeln diesmal etwas verhaltener. Ich bin fasziniert. Er ist bei weitem nicht der erste, bei dem ich es beobachten konnte.

Ich meine folgenden Zusammenhang postulieren zu können: Die weiblichen Medizinstudenten richten sich in der UB ihren Platz ein, wie eine kleine Festung. Stifte, technische Gerätschaften und Unterlagen türmen sich links und rechts. Sie verlassen den Platz allenfalls einmal, um aufs Klo zu gehen oder die Flasche aufzufüllen. Es gibt auch die männliche Version des Burgfräuleins. Dann gibt es noch die, die frustriert auf ihre Lernmaterialien starren und sich dabei die Haare raufen. 

Doch am faszinierendsten finde ich den dritten Typus an Medizinstudenten in der UB. 

Sie tragen sehr wenig bei sich. Ein Tablet womöglich. Oder einen Anatomieatlas.

Sie suchen sich einen Stehplatz und lernen dort beispielsweise zwei Minuten. Dann laufen sie los. Aufs Klo vielleicht? Nein nicht ganz. Eher einmal um das Bücherregal. Vielleicht noch um die Treppe herum. Du beobachtest sie und denkst dir – Huch? Wohin des Weges? 

Zurück zum Stehplatz. Wenige Momente später stehen sie wieder an ihrem Stehplatz, als hätten sie sich nicht von der Stelle bewegt. Manchmal suchen sie sich aber auch den nächsten Stehplatz. Ameisen im Hintern, denke ich mir. Ich gehöre im übrigen zu den Festungsbauern. Wobei ich nicht mehr so häufig in die UB gehe, wie ich es früher getan habe.

Der Grund ist ganz simpel: es tummeln sich Medizinstudenten in jeder Ecke. Viele starten früh, enden ihre Session spät. Du erkennst sie daran, dass sie den Lernatlas vor sich liegen haben. Oder diese bestimmten Lernkarten, die man fertig im Internet kaufen kann. 

Manchmal ist es auch die Graphik auf dem Bildschirm die sie verrät.

Vor einigen Wochen habe ich eine Kommilitonin mitgenommen, die davor noch nie die UB betreten hatte. ,,Schau mal, da sind überall Mediziner. Auf dem Bildschirm da, da siehst du Herzentwicklu…”

Ich werde unterbrochen. ,,Audrey!”

Das Mädchen hinter dem Bildschirm kannte mich. Ich winke ihr. 

Im vierten Stock, da sitzen sie derzeit alle. Ich mag den vierten Stock sehr gerne. Der Ausblick ist spitze. Gerade, wenn es draußen dunkel ist. Doch es ist manchmal auch echt anstrengend, dauernd von den anderen Medizinstudenten umgeben zu sein. Gerade, wenn das Frustrations- und Stresslevel ansteigt.

Ich erinnere mich manchmal an das, was mir eine Höhersemestrige in meiner ersten Woche bei einer Einführungsveranstaltung gesagt hat.

,,Die Sache mit den Kommilitonen ist nicht so ganz leicht, weißt du. Ohne kannst du nicht. Sie pushen dich. Sie stehen dir bei und helfen dir, organisatorisch alles auf den Semmel zu bekommen. Aber sie können auch sehr anstrengend werden. Wenn sie zu viel Druck ausüben, beispielsweise.“

Im zweiten Modul ist mir erstmals klar geworden, wie zutreffend ihre Worte sind. Auch so hatte ich bereits mit einer gewissen Grundanspannung zu kämpfen. 

Verkrampfte Schultern, ein Ziehen in der Magengegend und permanent die Gewissheit, dass ich noch nicht sehr viel kann. Gleichzeitig ahnte ich, dass es sich um Barrieren handelt, die ich mir primär in meinem Kopf errichte. Ich hatte nicht einmal zwingend mit den üblichen Versagensängsten zu kämpfen. Es war einfach eine besondere Mischung aus genereller Erschöpfung und Überforderung angesichts der Wucht an Informationen, die die zwei Lehrbücher für uns bereit hielten.

Mal wieder verwerfe ich meine Lernstrategie, bin aber nicht gewillt, gänzlich aufzugeben. Noch ist es nicht zu spät, denke ich mir oft. Ich schaffe es zunächst mehr oder weniger die Nerven zu behalten. 

Stück für Stück ist der Großteil meiner Freunde mit der Prüfung durch. Ich tausche mich mit anderen Kommilitonen aus. Und ich werde überrascht. 

,,Lernt ihr auch 8 Stunden pro Tag?”, fragt die eine.

,,Ich bin froh, wenn dieses Semester rum ist. Ich mach derzeit allenfalls Pausen, wenn ich einkaufen gehe. Mein Sozialleben leidet da schon darunter…”, sagt jemand anderes. ,,Sozialleben… was ist das? Haha.”, erwidert jemand weiteres.

In nahezu beschwörenden Tonfall meint dann eine besonders vernünftige: ,,Leute, ihr müsst schauen, dass ihr jede Woche eine Stunde habt, in der ihr nichts für die Uni tut. Nur was für euch. Das ist wichtig. Das braucht ihr.” 

Ob die anderen zugestimmt haben oder nicht, das kann ich nicht mehr sagen. Ich beäugte die Studentin eingehend an und fragte mich, ob sie wohl ihren eigenen Worten Glauben schenkt. Wer weiß, vielleicht nutzt sie diese eine Stunde pro Woche ja, indem sie sich eine Kerze anzündet und ordentlich Ambrosia futtert. Ich finde, schon eine Stunde pro Tag, kann sehr wenig sein.

Das Gespräch findet in der Pause vom Physiologie-Praktikum statt. Es handelt sich um eine Präsenzveranstaltung, die sich in einen Theorieteil und einen experimentellen Teil gliedert. Während der Theorieteil im großen Biochemie/Physiologie-Hörsaal stattfindet und einigen Studenten Gelegenheit bietet, still und versteckt Anatomie zu lernen, ist der experimentelle Teil interaktiver. Im ,,Nieren-Teil” beispielsweise wird literweise Tee getrunken, um in Gefäße zu pinkeln und somit glomeruläre Filtrationsraten bzw. die Clearance bestimmen zu können. 

Womöglich fühlten sich die Physiologen nicht ausreichend ernst genommen. Jedenfalls ist kürzlich eine Änderung im Praktikumsprozedere beschlossen worden. Bei jedem experimentellen Teil steht nun ein potentielles Testat auf dem Plan. Ein Zufallsgenerator entscheidet, ob die jeweilige Gruppe geprüft wird oder nicht. Wenn man Pech hat, kommt der Professor in den Praktikumsraum spaziert und trägt ein paar Tablets für die elektronische Abfrage bei sich. Die Abfrage besteht aus 5 Fragen zu dem jeweiligen Kursthema. Kenntnis und Verständnis des Praktikumsskripts wird vorausgesetzt. Es müssen in 12 Minuten 60 Prozent der Fragen richtig beantwortet werden. Im Wintersemester kann jede Gruppe bis zu zweimal geprüft werden. Auch ein Zuspätkommen schützt nicht vor den Abfragen.

Wenn man nicht besteht, dann muss man das Praktikum an einem bestimmten Termin nachholen. Der Witz ist, dass man dann aber auch von den folgenden Versuchen ausgeschlossen wird. Das heißt, man muss vor der ganzen Gruppe die Sachen zusammenpacken und gehen. 

Da jeder Praktikumstag aus zwei Teilen besteht, muss man zweimal einkalkulieren, potenziell geprüft zu werden. Auch, wenn man schon mehrere Stunden am ersten Teil partizipiert hat, muss man bei Nicht-Bestehen des zweiten Teils gehen.

Einem Freund von mir ist das passiert. Er kam mir entgegen geschlendert, da war ich gerade auf dem Weg zum Präpariersaal. Eine Freundin hat in ihrer Gruppe mitbekommen, wie jemand gehen musste. Sie meinte, es wäre für beide Seiten unangenehm. Für alle Beteiligten.

Physiologie/Biochemie-Hörsaal, Theorieteil des Physiologiepraktikums

Das heißt, man verbringt die Pause des Physiologiepraktikums in der Regel damit, sich nochmals letzte Details aus dem Skript einzuprägen. 

Ich muss jedoch ganz ehrlich zugeben, nachdem ich in meiner Pause derart anstrengende Gespräche mit meinen Kommilitonen mitanhören musste, war ich doch froh, als die Pause rum war.

Zum Großteil des Gesagten schweige ich. Sollte ich doch etwas erwidern, so bekomme ich Aussagen zu hören wie: ,,Also, so entspannt wie du wäre ich auch gerne.” oder ,,So locker würd ichs auch gerne sehen, haha.”

Eine Lektion, die ich im zweiten Modul lerne ist definitiv, mit wem ich mich austauschen möchte und welche Kommilitonen mein Stresslevel einfach nur erhöhen. 

Denn es gibt auch gute Gespräche. Gespräche, nach denen man sich gut fühlt, unabhängig davon, wie zuversichtlich einen das enorme Lernpensum gerade stimmt.

Ich setze mir jede Prüfungssession aufs neue das Ziel, dass ich mich nicht zu sehr stressen möchte. Es wird schon alles. Einfach weiterlernen. Es wird sich alles fügen, man merkt sich im Nachhinein doch immer mehr, als man dachte.

Doch, umso näher das zweite Testat rückt, umso weniger gelingt es mir, diesem Mantra treu zu bleiben.

Aus purer Verzweiflung bestelle ich mir im Internet Lernkarten. Einige lernen damit. Vielleicht bringt es ja was? Keine Lernstrategie soll unversucht bleiben. 

Ich beginne jeden Tag um 5 Uhr aufzustehen. Das Frühaufstehen wird zu meiner persönlichen Bewältigungsstrategie. Man hat das Gefühl, alles irgendwie schaffen zu können. Wenn man mal einen Hänger hat, dann fällt es zeitlich nicht so sehr ins Gewicht. Nur so sehe ich eine Chance, auch Dinge wie Sport und Haushalt in meinen Tagesplan integrieren zu können. 

Ich überrede einen Freund, ebenfalls früh aufzustehen, um sich auf dem Schlossberg den Sonnenaufgang anschauen zu können. ,,Danach können wir Urogenitaltrakt lernen, im Café. Ich stehe so oder so früh auf. Ich werde so oder so auf den Schlossberg steigen. Aber zusammen macht das mehr Spaß.” 

Tatsächlich schließt sich der Freund meinem Eifer an.

Es ist ein gutes Erlebnis. 

Schlossberg in der Frühe, eigene Bilder
Frühstück und Lernen im Café, wie man den Tag gut startet

Solche Erlebnisse braucht es im Studium. Gemeinsam mit Menschen, die sich selbst auch nicht zu ernst nehmen. Menschen, mit denen man auch mal lachen kann, wenn in der Übermüdung aus einem ,,Schlundbogen-Derivat” plötzlich ein ,,Schlumpfbogen-Derivat” wird.

Später an diesem Tag wird mich ein Kommilitone fragen, ob ich mir denn einbilde, zu viel Zeit zu haben, bei den Dingen die ich so unternehme. Es wird mein Stresslevel derart erhöhen, dass ich sofort von Schuldgefühlen gepackt werde und aufspringe, um meinen Lernatlas aufzuschlagen.

Ich unterhalte mich später mit Freunden darüber. Erst dann merke ich, dass seine Frage absolut toxisch war. Ich ärgere mich über mich selbst. Ich hätte diese Aussage nicht so sehr an mich heranlassen dürfen. 

Doch mein Nervengerüst war in diesen Tagen einfach nicht das widerstandsfähigste.


Autorin:

Audrey

Coucou, mein Name ist Audrey und ich bin eine aufgeweckte Medizinstudentin aus Freiburg!

Derzeit befinde ich mich ich im vierten Fachsemester Humanmedizin der Albert-Ludwigs-Universität. Ich bin unternehmungslustig, neugierig und nehme mich selbst meistens nicht allzu ernst. Hier schreibe ich ehrlich und ungeschönt über das Medizinstudium, das Studentenleben und so manches anderes.

Mach dir doch einfach dein eigenes Bild. Bis dann!

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