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Das Testat, Modul 2, Teil 4

Mit Nervenflattern verstreichen auch die letzten Tage. Zwei Nächte vor dem Testat kann ich plötzlich gar nicht mehr schlafen. Bis um 4 Uhr sitze ich auf dem Kuschelteppich und überlege mir, wieso mich der Schlaf nicht übermannen will. Ich denke unwillkürlich darüber nach, wie merkwürdig diese Redensart doch ist. ,,Vom Schlaf übermannt werden…”

Schlafen ist sowieso merkwürdig. Da legt man sich hin und wartet im Prinzip nur darauf, ohnmächtig zu werden.

Um 4 Uhr 53 stelle ich resigniert fest, dass in 7 Minuten mein Wecker klingeln wird.

Der letzte Tag vergeht. Mir geht es so mittelmäßig. Meine Freunde leisten mir beim Lernen Gesellschaft. Ich bin die einzige, die noch in das Testat muss. 

Auf dem Nachhauseweg fasse ich  einen Beschluss. Diese Prüfungssession hatte ich genug Stress. ,,Jetzt nicht mehr.”, denke ich mir.

Am Tag des Testats bin ich ausgeschlafen und gut gelaunt. Jetzt ist es eh zu spät, denke ich mir.

Während ich frühstücke, lese ich noch etwas im Anatomieatlas, als wäre es die Sonntagszeitung

Es klingelt an der Tür. Der Postbote. Ein schmales Päckchen wird mir überreicht

Ich brauche es nicht einmal zu öffnen, um zu wissen, was sich darin befindet. Die bestellten Lernkarten für Modul 2 erreichen mich nur wenige Stunden vor dem Testat. Ich seufze. Ich deute es als Zeichen. Wenn ich das Testat bestehe, dann gebe ich die Karten weiter. Wenn nicht, dann öffne ich das Päckchen und nutze sie zum Lernen für die Nachschreib-Parkourprüfung.

Gut gelaunt breche ich auf. Ich nehme es mit Humor. Sollte mich der Prüfer nach Beckenbodenmuskeln oder Lymphknoten fragen, bringe ich ihn einfach mit meinem ultimativen Wissensdefizit zum Heulen. Ich scherze mit meinen Freunden darüber. ,,Du gleitest dann auf seinen Tränen durch den Saal. Danach gibt er einfach seine Lehrauftrag ab.“ 

Jemand weiteres schlägt vor, ich könne ein Organ durch den Raum werfen und die Flucht ergreifen, sollte es zu schlimm werden. ,,Einfach eine Niere oder die Milz schmeißen. Solange es nicht deine eigene ist.”

Meine gute Laune nimmt keinen Abbruch.

Im Anatomiegebäude angekommen höre ich wieder Kommilitonen zu, die sich mit bereits Geprüften unterhalten.

Ein Professor im unteren Saal hat wohl im zweiten Modul die Hälfte durchfallen lassen

Ich begebe mich in den Waschraum und binde meine Locken zu einem Knoten zusammen. Dann stemme ich die Hände in die Hüfte. Superchirurgin, wie beim ersten Testat schon. Diesmal allerdings etwas überzeugter. Ich schreite die Treppen hoch in den oberen Saal.

Ich bin nicht mehr nervös, die Nervosität für dieses Modul, die habe ich komplett aufgebraucht.

Einige meiner Kommilitonen beäugen mich kritisch. Als ich seufze und meinem Kittel zurechtzupfe, werden ihre Blicke wieder sanftmütiger. Ja, mich lässt das hier auch nicht kalt.

Jawohl? Ich straffe die Schultern. Jetzt ist es sowieso nicht mehr zu ändern. Ich stehe am Eingang zum Leichensaal. Dieses Mal möchte ich nicht beobachten, wie die Person vor mir geprüft wird. Ich will nicht riskieren, womöglich doch noch nervös zu werden. Stattdessen lege ich den Kopf schief und konzentriere mich auf meine Atmung. Für einen kleinen Augenblick schließe ich die Auge. 

Dann erscheint unser Hiwi im Türrahmen. Ich bin an der Reihe.

,,Keine Sorge, das wird. Du hast so viel gelernt.”, sagt er. Das ist auch so eine Sache, meine Tischkollegen denken, dass ich viel mehr lerne, als ich tatsächlich tue. Man könnte ihre Vermutung ja als gutes Zeichen deuten. 

Ich stehe vor dem Prüfer und der Mitprüferin. Er murmelt irgendwas vor sich hin. 

,,Wie?”, frage ich. ,,Rocken wir das?”, wiederholt er sich. Ich zögere. 

,,Ja wir rocken das.” , antwortet er stellvertretend für mich. 

,,Ja…wir versuchen es…”

Ich bin jedoch unzufrieden mit meiner Antwort.  Also verleihe ich meiner Stimme mehr Festigkeit, als ich antworte: 

,,Wir geben unser Bestes, nichts anderes, nicht weniger.” 

Ich weiß, dass der Prüfer gelegentlich schlechte Witze macht, um die Stimmung aufzulockern und den Geprüften die Anspannung zu nehmen. Bei mir macht er keinen. Ich bin gefasst, meine Stimme klingt tatsächlich fest.

Die Prüfung beginnt. 

Zunächst werde ich aufgefordert  den Recessus costodiaphragmaticus zu zeigen. Thorax. Lunge. Ich laufe von Leiche zu Leiche und begutachte die zusammengefallenen Lungenflügel. Ich beschließe, den Prüfern die Recessi lieber an der Abbildung zu erklären, die an der Tafel neben den Lafetten befestigt ist. Welche weiteren Recessi gibt es? Wieso sind sie relevant? Wie heißen die pleurafreien Dreiecke? Zugänge zur Lunge, bei einer Operation! Pleurapunktion! Röntgenbild! Zugang zum Herzen! Herztamponade! Perikardpunktion! Ich rede und rede. Wenn ich etwas nicht weiß, dann nehme ich den Prüfer mit, bei meinem Gedankengang. Ich zeige die Strukturen an den zwei Körperspendern. Während ich das Herz in der Hand halte, merke ich, dass meine Hand leicht zittert. Es stört mich. Herz. Erregungsentstehung und Reizweiterleitung! Schrittmacherzentren mit den einzelnen Frequenzen! Klappen zeigen! Segel zeigen! Trabecula septomarginalis! Foramen ovale? Septi zeigen. Ich bin mir nicht mehr sicher, aber ich glaube ich habe noch etwas von der Entstehung der Septi erzählt. 

Darm. Ich hantiere mit den Darmschlingen. Den gesuchten Abschnitt finde ich nicht direkt. ,,Hmm, also unser Körperspender hat keinen Appendix vermiformis mehr…”. Ich lege die Darmschlingen wieder ab und blicke zur Decke. Ich spreche meine Überlegungen laut aus. ,,Also wie unterscheide ich die Darmabschnitte? Der Dickdarm hat Krypten und Haustren. Schließt sich dem Ileus nach der Ileozäkalklappe an. Also Dickdarm haben wir ab hier.” Ich deute auf einen Darmabschnitt.

,,Ich gebe Ihnen einen Tipp, den Abschnitt hatten wir gefenstert.”

Ich erkenne die Fensterung. Sie befindet sich dort, wo ich gerade den Dickdarm identifiziert habe. Es stört mich irgendwie, dass er meinte, mir diesen Tipp geben zu müssen. Ich bin doch auch von alleine darauf gekommen. ,,Ja, stimmt.”

Darm. Darmabschnitte. Meckel-Divertikel! Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, ob sie im Dickdarm oder Duodenum zu finden waren. Ich rate ,,Dickdarm” und liege richtig. Entstehung Darm. Vorderdarm, Mitteldarm, Hinterdarm…

,,Vielen Dank. Das reicht.”

Ich bin überrascht. Ich habe das Gefühl, es sind erst wenige Minuten vergangen. Ich verabschiede mich und gehe zum Eingang. Hier steht ein Tischkollege von mir. Er blickt mit wenig Zuversicht in den Saal. Ich lehne mich an den Tisch neben dem Eingang und unterhalte mich einige Momente mit ihm. Ich sage nicht, dass ich auch zu Embryologie befragt wurde. Stattdessen sage ich: ,,Er ist sehr nett. Er gibt dir Tipps, wenn du nicht weiter weißt. Das wird schon. Ich glaube an dich.”, ich drücke ihm die Schulter und gehe die Wendeltreppe hinunter. Ich kenne zu diesem Augenblick meine Punktzahl noch nicht. Ich begegne einigen Kommilitonen, die mich fragen, wie es gelaufen ist. 

Ich sage, dass es ganz gut gelaufen ist und dass ich den Dozenten wohl in double-time vollgelabert haben muss. 

Ich weiß, dass ich das eben bestanden habe.

Ich weiß auch, dass die Testate ganz viel mit Glückssache zu tun haben. Welchen Dozenten hast du? Wie ist er heute gestimmt? Sind vor dir bereits einige durchgefallen und der Prüfer ist frustriert? Welche Themenschwerpunkte werden gesetzt? Welche Themen erwischt du?

Dennoch bin ich stolz auf mich. Ich habe das gut gemacht.

Ich gehe zum Lehrgebäude der Biochemie/Physiologie. Ich muss noch mein Praktikumsskript abholen. Als ich in meinem Skript die blaue Karte klemmen sehe, erblicke ich ein “+”. Kurstag bestanden. Perfekt. Meine gute Laune nimmt weiter zu.

Ein Freund schleicht sich aus dem Biochemielabor, um mit mir zu sprechen. Er muss lachen, als er sieht, was für ein fröhliches Energiebündel ich gerade bin. Er hat mich die Tage zuvor noch mental zusammenflicken müssen, als ich in der UB versucht habe, nicht die Nerven zu verlieren. ,,Ich habe das einfach bestanden. Nicht du. Ich habe dich da einfach emotional durchgetragen. Auf den Händen. Dafür verdiene ich 5 Punkte.” 

Wir lachen. Ich düse ab. Wenige Momente später sitze ich mit meinen Tischkollegen in der Kantine. Die meisten sind gut gelaunt. Nach und nach gesellen sich die anderen hinzu, die bereits geprüft wurden. Wir tauschen uns aus. Als ich mich mit einer Kommilitonin unterhalte, zeigt sich mir wieder den Aspekt ,,Glückssache“. Sie musste irrsinnig viel über das Lymphsystem sagen. Ich habe keinen einzigen Lymphknoten gelernt. Da gabs sicher irgendwo einen Nodes lumbales oder so. Tja, mehr weiß ich bis heute nicht. Sie war allerdings top informiert. Ihr hat das Thema in die Karten gespielt. 

Ich gebe zu : ,,Haha, also ich weiß nicht, ob ich dein Testat bestanden hätte.” 

Sie antwortet: ,,Ich hätte deines nicht bestanden! Ich kenne keine Schrittmacherfrequenzen und Darmentwicklung, davon wollen wir gar nicht anfangen.”

Die Tischgruppe plant, zum Glühwein-Trinken in die Stadt zu gehen. Die erste packt bereits in der Kantine ihre Thermoskanne aus. Sprühsahne hat sie auch dabei. 

Derjenige, der nach mir geprüft wurde, setzt sich zu uns. Er wirkt immer noch etwas zerknittert. Ich unterhalte mich mit ihm.

Wir erfahren unsere Punktzahl.

Meine Vermutung bestätigt sich. Ich habe bestanden. Yes!

Allerdings bestätigt sich auch die Vermutung meines Gegenübers. Er hat es nicht geschafft.

Ich lächle ihn aufmunternd an. ,,Du warst ja auch krank. Sei trotzdem stolz auf dich und gönn dir eine kleine Verschnaufpause.”

,,Ja, es überrascht mich ja nicht. Als mich der Hiwi nach dem Testat wieder zum Eingang begleitet hat, da hat er kein Wort gesagt. Spätestens da, war ich mir sicher, dass es nicht gereicht hat”

,,Hmmm. Brauchst du Lernkarten für das zweite Modul?

Eingelullt in die Kuscheldecke, Kraft-Tanken nach dem Testat, Uni-Café, eigene Fotos

Autorin:

Audrey

Coucou, mein Name ist Audrey und ich bin eine aufgeweckte Medizinstudentin aus Freiburg!

Derzeit befinde ich mich ich im vierten Fachsemester Humanmedizin der Albert-Ludwigs-Universität. Ich bin unternehmungslustig, neugierig und nehme mich selbst meistens nicht allzu ernst. Hier schreibe ich ehrlich und ungeschönt über das Medizinstudium, das Studentenleben und so manches anderes.

Mach dir doch einfach dein eigenes Bild. Bis dann!

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