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Hilfe für Obdachlose durch eine junge Medizinstudentin aus Freiburg

Probleme der nahen und fernen Welt 3: Ein Umdenken und neue Projekte

Über Momente, die uns zu einem Perspektivenwechsel bewegen

Wenn man das Krankenhaus verlässt, nachdem man fünf Tage hintereinander um 4 Uhr aufgestanden ist, dann ist man selbst bei Sonnenschein einer gewissen Hilflosigkeit ausgesetzt. Wie soll man es nun schaffen, den Tag noch sinnvoll zu nutzen?

Social battery: empty. Physically: exhausted. Man braucht erstmal eine Pause. 

Ich bin nicht stolz darauf, aber wenn man mir unmittelbar nach einer 8 Stunden Frühschicht über den Weg läuft, kann es durchaus sein, dass ich erstmal den Blickkontakt meide. 

Doch glücklicherweise erwartet einen derzeit nach Schichtende vor allem eines: Sonnenschein. Gänseblümchen bilden weiße Flecken auf dem saftigen Grün der Wiesen.

Frühling in Freiburg

So auch an dem heutigen Tag. Es ist der Mittag unmittelbar nach der ,,Privatpatienten-Begegnung”. Aber wie gesagt: Schichtende, Sonnenschein.  

Ich beschließe spontan nach Hause zu laufen. In der Tasche ein zerfleddertes Buch, ein belegtes Brötchen, etwas zu trinken und unglaublich viele Kugelschreiber des Freiburger Uniklinikums. Irgendwie rutschen mir letztere immer aus den Dienstklamotten. Da ich mir daraufhin stets Nachschub besorge, habe ich mittlerweile überall welche.

Zudem habe ich das Physiologie Praktikumsskript dabei. In der Hoffnung, dass ich doch einmal einen Blick hinein wage. 

Ich erinnere mich, wie ich das auf Station getan habe. Ich hatte gerade Pause und just in dem Moment, indem ich das Heft aufschlug, kam ein junger Assistenzarzt hereinspaziert.

,,Physio, ne? Eine Freundin von mir schaut da gelegentlich auch noch Sachen nach.”

Es stellte sich heraus, dass er auch in Freiburg studiert hatte und sogar meine Professoren kannte. 

Physiologie, da steht noch an vor dem Physikum. Genauso wie die Anatomie- und Biochemie-Abschlussklausuren.

Das anstehende Semester streckt schon seine Fühler nach uns aus. Besonders Physiologie soll es in sich haben. ,,Wie Histo, nur mit mehr Fragen.”, sagen meine Höhersemestrigen gerne mal. Schluck. Es wird spannend.

Aber in der Sonne verblasst auch die Aussicht auf das, was bevorsteht. Ich strecke ihr mein Gesicht entgegen und merke, wie sie Batterien befüllt, die sonst nichts anderes befüllen könnte. Der Frühling ist also in Freiburg angekommen. ,,Freiburg ist aufgewacht!”, sagen Freunde, die gerade aus dem Urlaub kommen. Es stimmt. Überall Menschen.

Und während ich zum ersten Mal seit langem wieder meine Umwelt wahrnehme, fällt mein Blick auf eine Gestalt, die am Gebäuderand auf dem Boden kauert.

Wir würden den Herren wohl als Obdachlosen bezeichnen. Schlafsack. Wenig Gut in zwei Plastiktüten. Doch was meine Aufmerksamkeit fängt ist ein kleines Pappschild, das frontal an seiner Tasche lehnt. ,,Bitte Essen.”

Bitte Essen.

Es ist kein Betteln um Geld. Es ist das Äußern eines simplen, wesentlichen Bedürfnisses. Wie die meisten wusste ich in solch einer Situation natürlich nicht, wie ich agieren solle.

Ich bin nicht stolz darauf, wirklich nicht, aber ich stellte mich im Folgenden sogar ziemlich dämlich an.

Wie angewurzelt blieb ich ein paar Meter entfernt stehen und legte meinen Rucksack ab. Ich musste an das zerdrückte Brötchen in meiner Tasche denken. 

Sollte ich es ihm anbieten? Ich wollte ihm nicht das Gefühl geben, nur ein zerquetschtes Brötchen wert zu sein. Gleichzeitig dachte ich bei mir: ,,Wer ein solches Schild schreibt, der muss doch Hunger haben. Das schreibt man doch nicht einfach so. Wem der Magen knurrt, dem ist womöglich auch das zerdrückte Brötchen einer jungen Passantin recht.”

Ich überlegte hin und her. Viel zu lange. Der Mann stand auf, nahm sein Gut und ging.

Womöglich hatte er meine Blicke bemerkt. Ich weiß es nicht. Ich war jedenfalls sauer auf mich selbst.

Ich hätte ihm das Brötchen anbieten sollen. Es wäre ja nicht aufwendig gewesen, das zu tun. Doch ich hatte einfach zu große Hemmungen.

__________

Cut. Etwa eine Woche später.

Wieder sitze ich in der Sonne. Meine Anwesenheit im Krankenhaus ist fürs erste nicht mehr gefordert. Semesterferien. Zeit, die ich zur Examensvorbereitung nutzen sollte.

Ich habe sogar Karteikarten in der Tasche. Dort wo ich sitze, da stört es niemanden, dass ich auch mal lese, wenn denn nichts los sein sollte. Allerdings nehme ich gerade eher meiner zerfledderten Lektüre vorlieb und lasse die Karteikarten häufiger stecken. Der Lernstress will bitte nur zögerlich nach mir verlangen.

In Freiburg ist es tatsächlich noch ein bisschen wärmer geworden. Ich sitze am Eingang von einem kleinen Komplex an Räumlichkeiten. Über meinem T-Shirt habe ich eine hellblaue Weste. Wenn die Sonne verschwindet, dann tausche ich sie gegen ein langärmliches Exemplar. Wichtig ist nur, dass das Logo zu erkennen ist, das auf Brustseite und Rücken aufgestickt ist. So weiß man, dass man sich, wenn nötig, an mich wenden kann.

Es gibt Schichten, da komme ich kaum zum Lesen oder Lernen. Je nachdem was gerade so los ist. Je nach Wochentag. Und je nach politischer Lage.

Ich bin nicht die einzige Medizinstudentin hier. Es gibt FSJler, Praktikanten, einen Jurastudenten und einige, die soziale Arbeit studieren. Ein paar der Teammitglieder sind hier schon seit 10 oder gar 21 Jahren.

,,Wie kamst du zu diesem Ehrenamt?”, werde ich nicht selten gefragt.  Ich zögere dann immer kurz, bevor ich antworte. Meine Antwort sieht jedes Mal ein wenig anders aus. 

Zum ersten Mal habe ich durch einen Kommilitonen von der Bahnhofsmission gehört. Letztes Jahr kurz vor Weihnachten. Wir beide spielten seitdem mit dem Gedanken, uns dort zu melden. Gehemmt hat uns bisher vor allem die Angst vor Verpflichtung bei wenig zeitlicher Flexibilität. Schließlich geht es um Menschen, die auf einen zählen.

Menschen in Lebenskrisen. Menschen mit finanziellen Problemen. Wohnungslose. Leute die kostenlose Rechtsberatung brauchen. Frauen, die Opfer von (sexueller) Gewalt sind. Menschen, die eine Erstberatung und/oder eine Weitervermittlung brauchen. Jemanden, der ein offenes Ohr hat, ohne zu verurteilen. Jemand der Perspektiven aufzeigen kann.

Es sind Räumlichkeiten, die auch Menschen ohne klare Struktur im Leben ein Stück Beständigkeit vermitteln. 

,,Alsooooo…bei euch kann man zweimal pro Schicht etwas zu essen holen, stimmt?”

Ich blicke den jungen Mann an. Er kann nicht arg viel älter sein als ich. ,,Ja von 8 bis 12, 12 bis 16 und 16 bis 20 Uhr. Kaffee kostet derzeit wieder 50 Cent. Einfach, weil es ein Luxusgut ist.” 

Der junge Mann stellt mir weitere Fragen. Es sind banale Fragen und ich bin mir dessen bewusst, dass er gewisse Antworten schon kennt. Doch manchmal hilft es Menschen schon, wenn sie einfach jemanden haben, mit dem sie sich unterhalten können.

Sonst werden sie häufig übersehen. Sie führen Schattenexistenzen parallel zu den unseren.

Viele meinen sich ganz weit entfernt von so einem Leben zu wissen. Doch ganz so enorm ist die Distanz nicht. Ich habe eine Frau Ende dreißig kennengelernt, die hat nicht nur viele Jahre Medizin studiert, die kann sogar ein Physikumszeugnis vorweisen. Doch das Leben kann hart sein. Sie hat das Studium nie beendet. 

Ich kenne nicht wenige internationale Medizinstudenten, die Nebenjobs haben, um Miete, Semesterbeitrag und Zusatzbeiträge zu decken. 

Nicht jeder Medizinstudent hat ein Anrecht auf Bafög. Persönliche Krisen, familiäre Grenzsituationen, Schicksale… All das kann Menschen treffen, die sich bisher weit weg von sowas gesehen haben.

Ich will hier nicht den Teufel an die Wand malen. Ich sehe mich persönlich auch nicht in akuter Gefahr. Dennoch will ich damit den Abgrenzungsversuch unserer Gesellschaft ein wenig abmildern. 

Und wenn das Abgrenzungsverhalten so weit geht, dass Jugendliche vor dem Gebäude herumlungern und mit abschätzigen Kommentaren eine unangenehme Atmosphäre für alle Gäste schaffen, dann kann auch einer harmoniebedürftigen, schmalschultrigen Medizinstudentin wie mir, mal einer abgehen. 

Im übrigen nennen wir die Hilfesuchenden zwar Gäste, doch emotional komme ich nicht umhin, sie als Patienten zu verbuchen. Nicht zuletzt schwierige Patienten im Krankenhaus haben mich auf den Umgang mit schwierigen Gästen der Bahnhofsmission vorbereitet.

Manchmal muss man ihnen auch die Grenzen aufzeigen. Ich bin zwar noch in der Einarbeitung, doch es gibt genug Dinge die ich im Krankenhaus gelernt habe, welche hier von Nutzen sind. ,,Ich bin schon mit gewissen Wassern gewaschen.”, sage ich manchmal.

Als ich zu meiner ersten Schicht aufgetaucht bin, da wussten nicht alle Kollegen Bescheid, dass das Team Zuwachs bekommen würde.  Einer der Unwissenden begrüßte mich: ,,Hallo! Wie kann ich dir helfen?”

Ich war mit der Intention gekommen, erstmal ein Gefühl für die Arbeit dort zu bekommen, um später beurteilen zu können, ob ich mir vorstellen könnte, ein fester Teil davon zu sein. 

Doch schon bei der offenen Begrüßung merkte ich, dass mir gefällt wofür die Station steht: seinen Mitmenschen aufgeschlossen und frei von Vorurteilen begegnen. 

Ich weiß nicht, wieviel ich mithelfen kann, wenn das Semester wieder stressiger wird.

Doch ich habe mich bei der Bewerbung transparent gegeben. Habe erklärt, was mich bisher davon abgehalten hat, mich zu bewerben. Man gibt mir zeitlichen Spielraum bei der Legung meiner Schichten. Es ist etwas, dass auch den Kommilitonen von mir in Erwägung ziehen lässt, sich doch noch zu melden. Womöglich hat die Station bald einen Medizinstudenten mehr.

Derzeit haben wir sehr viel mit Geflüchteten aus der Ukraine zu tun. Auch das kann durchaus einen hilfreichen Aspekt haben, wenn es darum geht aktuelle Nachrichten einzuordnen.

__________

Doch, wenn ich ganz ehrlich bin, dann war es der Mann mit dem Pappschild, der mich dazu bewegt hat, keine halbe Stunde später den Anruf bei der Organisationsleitung zu machen.


Autorin:

Audrey

Coucou, mein Name ist Audrey und ich bin eine aufgeweckte Medizinstudentin aus Freiburg!

Derzeit befinde ich mich ich im vierten Fachsemester Humanmedizin der Albert-Ludwigs-Universität. Ich bin unternehmungslustig, neugierig und nehme mich selbst meistens nicht allzu ernst. Hier schreibe ich ehrlich und ungeschönt über das Medizinstudium, das Studentenleben und so manches anderes.

Mach dir doch einfach dein eigenes Bild. Bis dann!

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