Blog

Modul 3 Teil 3: Bekanntschaft mit Pfeifenputzern
Ich stehe da. Noch bevor der Hiwi und die anderen Tischkollegen kommen, bin ich neben der Lafette .
Ich stehe auf Kopfhöhe der Leiche. Blicke auf den offenen Hals, den freigelegten Arm, das abgeschälte Gesicht. Lasse alles auf mich wirken.
Welche Strukturen erkenne ich wieder? Immer noch bin ich in der Orientierungsphase. Weiterhin besteht meine Lernstrategie darin, voll auf meine Auffassungsgabe zu bauen.
Das heißt, noch wäre ich nicht in der Lage, etwas auswendig herunterzubeten.
Ich erinnere mich noch, wie der Dozent plötzlich neben mir stand.
,,Morgen”, er räusperte sich. ,,Morgen setzen wir die Köpfe ab und sagittalisieren sie.”
Ich unterhalte mich mit dem Neuroanatomen. ,,Besteht denn die Chance, da dabei zu sein?”
,,Also das ist wirklich unspektakulär. Ich kann Ihnen den Vorgang einmal kurz schildern, wenn Sie möchten.”
Mit unbeeindruckter Miene beschreibt er, wie die Köpfe abgesetzt und durch eine Kreissäge geschoben werden, damit der Mediansagittalschnitt möglichst akkurat verläuft.
An einem späteren Tag soll ich mitbekommen, wie sich die Hiwis im Waschraum darüber unterhalten. ,,Das war schon ziemlich cool, da dabei sein zu können.” Aber wie gesagt, meinen Dozenten hat der Vorgang wenig beeindruckt.
Ich verkneife mir eine Anmerkung darüber, dass ich schon sehr viel Spaß hatte, als ich das Becken der Leiche durchsägen durfte.
An dem Tag halten manche meiner Tischkollegen ihr Seminar. Es ist eine Voraussetzung dafür, dass die Humanmediziner ihren Großen Anatomieschein bekommen. Die Zahnmediziner, die nur den Kleinen Anatomischein machen, müssen diese Anforderung nicht erfüllen. Das Seminar ist eine Leistung, die einmalig in einem der vier Module erbracht werden muss. Ich habe mein Seminar ebenfalls in diesem Modul gehalten. Allerdings an einem anderen Tag. Dennoch wurde mir im Anschluss der Seminare ungewollt viel Aufmerksamkeit zuteil. Der Dozent verfolgte die Absicht, uns moralisch auf das anstehende Testat vorzubereiten. So drückte er es aus.
Nun. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er plötzlich vor mir stehen und mir einen Schädel hinhalten würde. ,,Wer kann mir den Canaliculus tympanicus zeigen?”
Er fragte es zwar in die Runde, hielt aber nur mir den Schädel hin. Mit der anderen Hand richtete er einen Pfeifenputzer auf mich. Für den Putzer ist er bekannt. Mit dem soll man die Strukturen des Schädels demonstrieren.
Ich war überfordert. Am Tag zuvor hatte ich mir die Schädeldurchtrittsstellen noch angeschaut. Zwei zugehörige Abbildungen sind Teil der Collage, die ich mir in der Vorbereitungsphase des Eingangstestats angefertigt hatte. Die Collage hängt an der Wand neben meinem Schreibtisch. Alles was zu Kopf und Schädel gehört, ist am oberen Rand der Collage platziert. Ich hatte es für sinnvoll gehalten, die Öffnungen laut vor mich hin zu sagen, während ich vor der Wand auf und ab hüpfte.
Man könnte also meinen, ich hätte nun eine grobe Ahnung von dem, was der Dozent von mir hören wollte.
Nun ja. Leider weit gefehlt. Es stellte sich raus, dass die Verlage teilweise unterschiedliche Auffassungen darüber besitzen, welche Strukturen in beziehungsweise an den jeweiligen Foramina, Hiatus, Canales und Pori aufzufinden sind.
Medizin ist bunt. Das liest man häufig. Es ist nicht gerade meine Lieblingsaussage. Aber es ist leider wahr, dass Abweichungen von den Lehrbüchern die Regel sind.
Allerdings sollte man beim Anatomielernen auch unbedingt auf Diskrepanzen zwischen den einzelnen Lehrbüchern achten. Es empfiehlt sich, immer dem Lehrbuch das meiste Augenmerk zu schenken, dass von den jeweiligen Professoren in den Vorlesungen am häufigsten empfohlen beziehungsweise verwendet wird. Außerdem sollte man sich nie davor scheuen, die Dozenten direkt danach zu fragen, was ihnen wichtig ist.
Das habe ich auch gemacht, als ich Schwierigkeiten hatte, die Themengebiete von Modul 3 und 4 auseinanderzuhalten. ,,Wo fangen Sinnesorgane an, wo hören Strukturen, die zum Thema ‘Kopf’ gehören auf? Welche Muskelgruppen bezüglich der Augen muss ich jetzt schon wissen können?”
Kein Professor, der seinen Lehrauftrag ernst nimmt, hat ein Problem damit, eine solche Frage zu beantworten.
Nun ja. Mein Dozent ging noch einen Schritt weiter, indem er uns konkret demonstrierte, welche Themenschwerpunkte ihm besonders wichtig sind.
Der Pfeifenputzer also. Ich muss zugeben, ich war etwas gefesselt, als er ihn mir hin hielt. Wie hypnotisiert zog ich meine hellblauen Handschuhe aus und entblößte meine dunkelvioletten Nägel. In Kontrast zu dem hellen Schädel fielen sie besonders auf. Ich bemerkte, wie manche meiner Tischkollegen darauf blickten.
Ich weiß nicht mehr genau, was ich dem Dozenten antwortete. Ich weiß nur, dass ich haderte. Tatsache ist nämlich, dass der Canalicus tympanicus an der Abbildung an meiner Wand gar nicht annotiert ist. Bis vor dieser Präparierstunde hatte ich noch nie davon gehört. Nach der Präparierstunde beschloss ich, das Lehrbuch zu wechseln.
Ich fühlte mich in der Abfrage ziemlich in die Mangel genommen. Ich wusste auch noch nicht die genaue Lage der Ganglien. Ich hatte es mir einfach noch nicht angeschaut.
Ich haderte.
In meinen Augen war es ein Versagen, welches ich auf keinen Fall wiederholen wollte.
Ich verließ das Histologiegebäude mit einer Ahnung davon, was ich nun zu tun hätte.
Autorin:

Audrey
Coucou, mein Name ist Audrey und ich bin eine aufgeweckte Medizinstudentin aus Freiburg!
Derzeit befinde ich mich ich im vierten Fachsemester Humanmedizin der Albert-Ludwigs-Universität. Ich bin unternehmungslustig, neugierig und nehme mich selbst meistens nicht allzu ernst. Hier schreibe ich ehrlich und ungeschönt über das Medizinstudium, das Studentenleben und so manches anderes.
Mach dir doch einfach dein eigenes Bild. Bis dann!
Auch noch interessant:
- Berufsunfähigkeitsversicherung schon für Medizinstudenten sinnvoll?
- Berufshaftpflichtversicherung Medizinstudenten und Medizinstudentinnen
- Berufshaftpflichtversicherung für Ärzte und Medizinstudenten und Medizinstudentinnen
BU-Schutz trotz Psychotherapie
Bislang galt: Wer sich aufgrund psychischer Beschwerden in Behandlung begeben hat, konnte entweder gar keine Berufsunfähigkeitsversicherung für Ärzte abschließen oder nur mit einer Ausschlussklausel für psychische Erkrankungen. Letzteres ist aber in den allermeisten Fällen nicht zu empfehlen, schließlich sind fast 30% der BU-Fälle auf psychische Erkrankungen zurückzuführen. Unter…
ETF Sparplan vs. Rentenversicherung
ETF Sparplan vs. Rentenversicherung (auch mit ETF) Grundsätzlich sehe ich bei der richtigen Herangehensweise mit ETF-Depot und Rentenversicherung hervorragende Möglichkeiten, gut vorzusorgen. Mir geht es auch nicht um DIE tolle Möglichkeit, die alles bestens löst und gleichzeitigen Ausschluss der anderen Wege. Mir geht es um ein „sowohl-als-auch“. Heißt: Depot –…
Aufbruchstimmung und Zugehörigkeitsgefühl
Semesterstart. Erstitage. Kneipentouren. Viele Neuankömmlinge in Freiburg. Neu in der Stadt und/oder an der Universität. Es ist eine ganz besondere Stimmung. Ich fühle mich mittlerweile uralt. Als ob ich schon ewig studieren würde. Als ob Freiburg für mich immer nur Studentenstadt gewesen wäre. War sie nicht. Wird sie…
So meine lieben Kinderleins II: Abläufe
,,Wieso bist du eigentlich Tutorin geworden? Hat der Kurs dir damals so viel Spaß gemacht?” Ich blicke hoch. Der weiße Kittel des Zahnis überragt meinen gelben Hiwi-Kittel bei weitem. Es ist Kurstag 3. Ich betreue gerade die vierte Gruppe an Studenten. Es herrscht Hiwi-Knappheit, aufgrund von organisatorischen Problemen…
So meine lieben Kinderleins I: die Anatomiebros, die Survivors und die Bindeglieder
Ob ich wohl eine ganze Bank für mich alleine einnehmen kann? Ich strecke meine Gliedmaßen und lege mich quer über die Sitzfläche. Als wäre das noch nicht genug, tippe ich mit den Fußspitzen auf die Bank daneben. Zum Amüsement meiner Freunde. ,,Das ist jetzt meine Lavette. Ich fühl…
weiterlesen So meine lieben Kinderleins I: die Anatomiebros, die Survivors und die Bindeglieder
Wer sind die Erstis
High-Five High-five am Flughafen. High-five am Bahnhof. Ich schultere meine Reisetaschen. Für mich ist es kein Aufbruch in fremde Welten. Für mich ist es eine Rückkehr in vertrautes Terrain. Auch, wenn ich nicht vorhabe, gänzlich zu dem zurückzukehren, was ich hinter mir gelassen hatte. Schließlich plane ich die…
Schimpfen über die Ärzte: Die Sache mit dem Feingefühl
Jeder hat so seine Meinung über die Mediziner. Sowohl über uns Medizinstudierende, als auch über die Ärzte. Wenn ich mich mit Menschen über Ärzte unterhalte, bekomme ich in der Regel eine Meinung zu hören, die entweder stark positiv geprägt ist oder stark negativ. Positiv vor allem, wenn jemand…
weiterlesen Schimpfen über die Ärzte: Die Sache mit dem Feingefühl
Medizinstudium alternativ: Beim Bund
Medizinstudium bei der Bundeswehr – Wie ist das eigentlich? Ein Aspekt des Studentenlebens ist sicher der, dass man unglaublich schnell neue Menschen kennenlernt. Es bieten sich einfach viele Gelegenheiten. Selbst, wenn man den ganzen Tag in der UB hockt. Insbesondere, wenn man von dem Automaten aufgehalten wird, der…
Eine Frage der Gesundheit
Es ist egal, wer du außerhalb dieser Türen bist, hier bist du nur einer von vielen. Die Person neben dir auf dem Laufband, die könnte alles sein. Koch, Schriftsteller oder Oberstaatsanwalt. Die Menschen genauso bunt wie die Handtücher, die sie bei sich tragen. Jeder verfolgt hier seine eigene…