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Medizinstudent im Schnee

Modul 3 Teil1 : Grenzgänger und Schattengestalten

Über den Endspurt vor der Winterpause

Drei Gestalten, da sitzen sie.

Sie sitzen in einem gelben Kegel aus Licht, aufgeworfen von den umgebenden Straßenlaternen.

Wer sie sind, das hätte man vor hier aus nicht sagen können. Ob sie nur beieinander sitzen und ihre Füße über dem Abgrund baumeln lassen. Oder, ob sie womöglich tiefgründige, tiefschürfende Gespräche führen. Sie sitzen da, in einer unheimlichen Kulisse aus Dunkelheit und Nebel.

Blicke zu lange in den Abgrund – und er blickt zurück, hat mal ein bekannter Artist gesungen. 

Der Anblick der drei fesselt mich geradezu. Ich greife nach dem Geländer vor mir. Die anderen beiden sind stehen geblieben. Audrey, wo bleibst du? Neugierde. Sie stellen sich zu mir. Wir drei schauen die drei an. Ich weiß nicht, ob ihnen die Parallelen zwischen uns auffallen. 

Unser Atem zeichnet sich weiß in der Dunkelheit ab.

Wer weiß, vielleicht reden die drei ja auch nicht. Vielleicht sind sie auch nur damit beschäftigt, drei weitere Gestalten zu beobachten.

An diesem Abend haben wir die Gastfreundlichkeit der UB ein weiteres Mal bis aufs äußerste ausgereizt. Die Durchsage, die uns kurz vor Mitternacht dazu aufrief, die Räumlichkeiten allmählich zu verlassen, die ist uns mittlerweile wohlbekannt. ,,Ladies and Gentlemen…”, zunächst erfolgt sie auf englisch, später dann auf deutsch. Wenn wir Glück haben, erwischen wir unseren Lieblingssprecher, dessen badisch klingendes ,,Lahdieees” uns jedes mal aufs Neue zum Schmunzeln bringt. 

Nach dem Präparierkurs haben wir uns gemeinsam im Parlatorium getroffen. Bereit rauszuholen, was eben noch geht, wenn man einen langen Tag hatte. Schließlich rückte der Termin des dritten Testats allmählich wieder gefährlich nahe.

Modul 3 also. Mir kommt es so vor, als hätte ich nach dem zweiten Testat nicht mehr als fünfmal geblinzelt, da fingen meine Freunde schon wieder mit dem Präpen an.

Während ich noch einen Tag lang durchatmete, trudelten bereits ihre Berichte herein.

,,Ich habe heute einer Leiche das Gesicht abgeschält.” – ,,Oh und wie war’s?” – ,,Ach, schon okay.”

Meine Freundin sah das ganze etwas anders. ,,Ich fand das heute nicht so toll. Audrey, schnapp dir morgen einfach einen Arm. Dann kannst du dich auf den Arm konzentrieren und musst nicht auf das Gesicht achten.”

Ich hatte gemischte Gefühle. Schließlich frage ich mich im Präpkurs jedes Mal aufs Neue, wie ich mich anstellen werde, wenn wir den nächsten Körperabschnitt eröffnen.

Modul 3. Was hat man da zu erwarten? Topographische Schwerpunkte in dieser Präpariereinheit sind: Kopf, Hals, Schulter, Oberarm, Unterarm und Hand.  

Da ich im ersten Modul mit der unteren Extremität besonders gut klar gekommen bin, hatte ich mich eigentlich auf den Arm gefreut. Auch, wenn meine Kommilitonen schon über die vermeintlich hohe Anzahl an Unterarm- und Handmuskeln stöhnten. Ich zuckte daraufhin meist die Schulter. Eine Geste, die man dieses Modul häufiger von mir zu sehen bekommen würde.

Unser neuer Dozent war ein ziemlich alter Neuroanatom mit beeindruckendem Lebenslauf, viel Kompetenz und einer Art, die man nur als angenehm bezeichnen konnte. Vorlaute Besserwisser soll er nicht so mögen, hieß es. Dafür hat er eine besondere Vorliebe für Pfeifenputzer. Dazu später mehr.

Ich sollte noch merken, wie gut der Dozent zu diesem Modul und meinem  Gemütszustand  passen würde.

Meine Stimmung war vor allem vom Erschöpfung geprägt. Ich war zu müde, um mich auf ein hohes Stresslevel einzulassen. Modul 2 hat das alles ausgereizt, schien mir. Hinzu kommt, dass die Episode unmittelbar vor der Winterpause entsprechend der kühlen Jahreszeit nochmal besonders von Trägheit und Düsternis geprägt war. Dennoch startete ich mit einer Mischung aus Müdigkeit, Entspannung und ein klein wenig Enthusiasmus in das neue Modul.

Ich ging regelmäßig in den vierten Stock der UB. Anfangs nur nach dem Präparieren. Später auch noch vor der Uni. Wenn ich abends müde wurde, schloss ich meine Sachen in das Schließfach der UB. Da die Nutzung der Schließfächer zeitlich limitiert ist, war ich somit gezwungen, am nächsten Morgen wieder früh da zu sein. 

An uni-freien Tagen zog ich gänzlich in die UB ein. Meine Freunde schlossen sich gelegentlich für ein paar Stunden an.

Sie merkten vor mir, dass ich dabei war, mich zu überarbeiten. 

Ich beanspruchte irgendwann nicht mehr nur einen, sondern zwei ganze Plätze in dem Stockwerk. 

Einen Sitzplatz mit Tasche, Wasserflasche, Ladekabel, Tablet, Büchern und Schreibzeug. Einen Stehplatz mit Thermoskanne und meinem Laptop. 

Ich stand so lange, wie mein Laptop Akku hatte, da die Stehplätze nicht mit Steckdosen versehen sind. 

In regelmäßigen Zeitabschnitten, die mein Laptop zum Laden brauchte, wechselte ich zwischen Sitz- und Stehplatz.

Ich verschüttete täglich mindestens zweimal etwas Kaffee. Das ist gewissermaßen meine Art, in der UB mein Revier zu markieren. Jeden Tag wurde es etwas schwerer, Feierabend zu machen und/oder Pausen einzulegen. Ich gab mich dem Sog des vierten Stocks komplett hin. 

Hinzu kamen die Kommilitonen, die vor mir da waren. Die schon dasaßen, wenn ich früh morgens die Treppen hoch gepoltert kam. Die abends noch da saßen, wenn ich überlegte, ob ich zusammenpacken sollte. Sie vermittelten mir ein Gefühl von ,,Da geht noch was.” 

Daheim lernte ich kaum noch. Schlafen, essen, fertig machen, losgehen. Aber ich gab mich dem hin. Ich stand am Tisch und las. Meine Lernstrategie lautete: mich erst orientieren, später dann der Feinschliff. Meinen eigenen Plan fahren. Es könnte schief gehen. Es könnte gehörig schief gehen, wenn meine Strategie nicht aufginge.

Feinschliff heißt, alles auswendig zu lernen, was man runterpoltern können muss, wenn man abgefragt wird.

Orientieren heißt, so viel wie möglich auf Verständnis lernen. 

Mich störte der Stress, den manche meiner Kommilitonen verbreiteten. Doch ich konnte ihn vorerst von mir abwenden. Von mir fernhalten. 

Ich erinnere mich noch genau an eine Situation in der Bibliothek. Ich stand an meinem Stehplatz. Ich hatte mein Lehrbuch vor mir aufgeschlagen. Meine Mission war es, den Larynx zu verstehen. Wo liegt welcher Knorpel? Zwischen welchem Knorpeln gibt es ein Gelenk? Wieso? Während ich lerne, schweift mein Blick häufig durch den Raum. Dabei blicke ich gelegentlich durch Menschen hindurch. Das kann nervig sein, wenn in der Bibliothek mal wieder viele Leute sitzen, die ich kenne. ,,Ich beobachte dich nicht.”, würde ich dann gerne sagen. ,,Ich baue nur gerade vor meinem inneren Auge einen Kehlkopf.”

Plicae. Cartilago. Membrana. Ligamentum. Plötzlich fällt mir auf, dass mir ein Kommilitone zulächelt. Ich nicke, erwidere das Lächeln und senke den Blick wieder.

Es ist der Kommilitone, der in der zweiten Prüfungsphase mein Stresslevel durch die Frage erhöht hat, ob ich mir denn einbilde, zu viel Zeit zu haben. 

Cricothyroideus. Plötzlich fahre ich zusammen. Der Kommilitone steht nun direkt vor mir.  Ich unterhalte mich mit ihm. Es ist ein nettes Gespräch. Im Laufe der Konversation gebe ich zu, was sein Kommentar damals in mir ausgelöst hatte. 

Obwohl er versteht, deutet er das, was ich sage, falsch. Er wertet es als Erfolg. Seiner Meinung nach sei es sicher gut, wenn wir aufeinander Druck ausübten. ,,Sonst lernt man doch nicht. Wenn mir jemand Druck macht, dann lerne ich besser.”

Ich schaue ihn nur schweigend an. Ich stimme nicht zu. Ich brauche den zusätzlichen Druck von außen nicht. Ich lerne lieber mit denen, die mir Druck und Anspannung nehmen. 

Ich messe den Erfolg eines Lerntreffens auch daran, wie ich mich danach fühle. 

Lerntreffen fanden zu dem Zeitpunkt immer seltener statt. Sicher lag das auch daran, dass ich meinen Lernschwerpunkt in den Lesesaal des vierten Stocks verlegt hatte. Für gemeinsame Lerntreffen haben wir stets das Parlatorium vorgezogen. 

Das Parlatorium umfasst die Räumlichkeiten der UB, in denen man auch laut reden kann und die Stimmung insgesamt etwas ausgelassener ist. Wenn man im ersten Stock, direkt neben dem Sitz der Security, an dem Studierendenausweis und Impfpass kontrolliert werden, nicht nach links in die Lesesäle abbiegt, sondern nach rechts der Treppe folgt, dann kommt man in diesen Bereich. 

Den vierten Stock hingegen mögen meine Freunde weniger. 

Dennoch war ich immer froh, wenn sie dabei waren. Dank ihnen schaffte ich es auch mal, Schluss zu machen. Ohne meine Freunde fiel es mir deutlich schwieriger, meine Grenzen einzuhalten. 

Da geht noch was. Da geht noch was. Da geht noch was.

Früher starten, später enden. Weniger trinken, dann muss man nicht pausieren, um aufs Klo zu gehen. Konzentration weg? Braucht das Gehirn Nahrung? Im Ruhezustand verbraucht das Gehirn etwa 20 Prozent der Körperenergie. Chemische und elektrische Signale. Aktive Kommunikation von Nervenzellen. Aufrechterhaltung von Konzentrationsgradienten. 

Das Gehirn braucht Sauerstoff und Kalorien um gut zu funktionieren.

Um ehrlich zu sein, die Sauerstoffsituation in der UB ist wahrlich nicht die beste. 

Also Pause machen, um etwas zu essen? Schwierig. Was kann man essen, damit man wieder für einen möglichst großen Zeitraum funktionsfähig ist, aber nicht in ein ,,Essenskoma” verfällt?

Das waren die Maßstäbe in denen ich zu diesem Zeitpunkt dachte.

Ich sagte dauernd von mir: Diesmal schaffe ich es, den Stress, den die anderen ausüben, nicht an mich heranzulassen.

Dabei bemerkte ich nicht, wie der Druck, den ich selbst auf mich ausübte, Überhand nahm.

Als ich mich einen weiteren Tag an den Rande der Erschöpfung geschafft hatte, da wurde ich von einem guten Freund rausgehauen. Ich hatte den ganzen Tag in der UB verbracht und nur pausiert, um mir eine Brezel zu holen.

Er war abends dazu gekommen und war bereits nach zwei Stunden wieder bereit aufzubrechen. 

,,Ich weiß nicht, ob ich mit soll. Ich glaube da geht noch was. Vielleicht schaffe ich ja noch was.”

Ich begleitete ihn letzten Endes doch. Wir standen an der Haltestelle und warteten auf meine Straßenbahn. Plötzlich blickte er mich direkt. Ich blicke verwundert zurück.

,,Geht’s dir gut?”

Ich muss zugeben, seine Frage brachte mich absolut aus dem Konzept. 

Man könnte das, was ich in jenem Moment wiedererlangte auch Propriozeption nennen.

Einen Sinn für den eigenen Körper im Raum. Wahrnehmung der eigenen selbst. Unweigerlich verknüpft an die eigenen Empfindungen.  Zum ersten Mal seit längerem hörte ich wieder in mich rein.

Ja, wie geht es mir denn? Gute Frage.

An dem Abend verlor ich etwas die Nerven. Plötzlich nahm ich die ganze Erschöpfung wahr, die ich vorher bereitwillig ignoriert habe. Den Druck. Die Reizüberflutung. Es war etwas zu viel.

Manche Mediziner sind Grenzgänger. Sie vernachlässigen sich selbst. Sie erhöhen den Druck sich selbst gegenüber. Sie gehen ans Äußerste. Sie lassen die Füße über dem Abgrund baumeln. Nahe an der eigenen Grenze. Nahe daran, diese zu überschreiten. 

Doch, wenn man seine Grenzen nicht wahrnimmt, wenn man sie zu oft überschreitet, dann merkt man nicht, dass man irgendwann nicht mehr bloß Grenzgänger ist. Dass man von einem Grenzgänger zu einer Schattengestalt übergangen ist.

Das Medizinerdasein ist nicht selten verbunden mit dem Abtauchen in eine Blase. Die Menschen, mit denen man zu tun hat, ticken häufig ähnlich wie man selbst. 

Aber die Tatsache, dass die Eigenschaften und Tendenzen, die die anderen mit einem teilen, widerspiegeln und eventuell sogar forcieren, nicht zwingend die besten sind, darf man nicht aus den Augen verlieren.

Auch, wenn alles richtig erscheint, in der Bubble. Manchmal sollte man rechtzeitig aus dem gelben Kegel herausblicken. 

Bevor um einen herum nur noch Dunkelheit ist.


Autorin:

Audrey

Coucou, mein Name ist Audrey und ich bin eine aufgeweckte Medizinstudentin aus Freiburg!

Derzeit befinde ich mich ich im vierten Fachsemester Humanmedizin der Albert-Ludwigs-Universität. Ich bin unternehmungslustig, neugierig und nehme mich selbst meistens nicht allzu ernst. Hier schreibe ich ehrlich und ungeschönt über das Medizinstudium, das Studentenleben und so manches anderes.

Mach dir doch einfach dein eigenes Bild. Bis dann!

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