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Gluteus Partymuss und lacuna vasorum I

Examensvorbereitung für den Präpkurs

Es regnet. Tropfen an der Fensterscheibe. Ich schließe die Augen. Es ist zwei Uhr nachts. Ich hatte nicht vor zu schlafen, aber mein Körper hat andere Pläne. In letzter Zeit gelingt es mir immer weniger, immer seltener die Grenzen zu missachten, die er mir diktiert.
Dabei habe ich den Eindruck, gerade jetzt wäre eine solche Missachtung angebracht.
Wie soll das sonst alles hinhauen?
Ich betrachte die Regenschlieren. Seufz. Dann fasse ich einen Beschluss.

Wenn ich dieses Examen hinter mich gebracht habe, habe ich Anlass, stolz auf mich zu sein. Egal wie es ausgeht. Auch, wenn die nächsten Anforderungen direkt folgen werden.
Es ist etwas wert. Gerade jetzt spüre ich, was es mich kostet. Deutlich.
Ich werde es noch häufiger verspüren, dieses Gefühl. Es gehört dazu.
Dennoch. Man muss durchhalten.
Standhalten, hmm. Ob ich das wohl wirklich schaffen werde? Es wird sich zeigen.

Tropf, tropf. Die Laute der Regentropfen haben einen beruhigenden Einfluss.
Sie lindern die Anspannung, die sich in meiner Magengrube breit macht.

Ich bin kaum heraus aus der akuten Semesterstarts-Orientierungsphase, da erwischt es mich. Ich bekomme die Grippe. Corona ist es nicht, Fieber und angeschwollene Lymphknoten habe ich trotzdem. Meine körperliche Konstitution verschlechtert sich sukzessive.
Parallel dazu verändert sich auch die Konstitution der Körperspender in den Prärariersälen. Sie werden immer schmaler. Jedes Mal, wenn sich unsere Kohorte um den Tisch sammelt, sind sie um eine Schicht leichter.
Ob es sie weniger lebendig, weniger menschlich wirken lässt? Man ist sich uneinig.
,,Unwirklich”, sagte meine Kommilitonin dazu. Ihr erscheinen die Leichen von Mal zu Mal unwirklicher.
Hmm. Für mich ist der abnehmende Umfang der Körperspender, vor allem mit der Gewissheit verbunden, dass unser erstes Testat näher rückt.
Wir arbeiten zackiger, schließlich wollen wir noch die freigelegten Strukturen besprechen. Es ist ganz schön anstrengend.
,,Uff, du siehst aber mitgenommen aus.“, meint eine Kommilitonin zu mir, als wir später an den Schließfächern stehen, um unsere Kittel gegen Straßenkleidung auszutauschen. Ich brummte zustimmend.
Tatsächlich war mir in der letzten Stunde vor dem Examen erstmals bewusst geworden, dass ich gerade dabei bin, krank zu werden.
,, Also das hier ist der Musculus serratus posterior inferior, innerviert durch….”, insgeheim kämpfte ich just in diesem Moment gegen aufkommende Übelkeit an. Während der nächste Präpkollege weiter machte, zog ich mir einen Stuhl heran. Den restlichen Präpariertag habe ich nur mit Mühe und Not hinter mich gebracht.

Die Kommilitonin verschließt ihr Schließfach und lächelt mich aufmunternd an. Gemeinsam verlassen wir das Histologiegebäude.

Die folgenden Tage gehe ich nicht mehr zur Uni.

Dafür häufen sich wieder lose Blätter in meiner Wohnung. Karteikarten. Bücher. Kaffeetassen. Das übliche Spiel. Ein Chaos sinnbildlich zu dem in meinem Kopf.
Meinen Kommilitonen geht es ähnlich.

Befreundete Studenten aus anderen Studiengängen melden sich. Anscheinend hätten sie gehört, dass unser erstes Testat ansteht.
,,Ja du, ich saß mit Freunden in der Cafeteria in der Innenstadt, da haben wir die Gespräche von so Medizinern belauscht. Der eine meinte zu seiner Freundin, dass er um 17 Uhr dran wäre und gleich durchdreht. Als wir gehört haben, was ihr da so zu lernen habt, da waren wir schon ganz froh darüber, dass wir nicht Medizin studieren.”

Ein anderer Freund meldet sich bei mir. ,,Hey, hattest du dein mündliches Examen schon? Heute standen so zwei Typen bei mir im Aufzug im Wohnheim, die haben sich darüber unterhalten, dass sie hoffen, es würden keine Ohren abgefragt.”
Ich muss schmunzeln, als ich die Nachricht lese.
,,Nee du, also Ohren müssen wir eigentlich nicht können. Rumpf, Rücken und untere Extremität reicht schon. Ich bin im übrigen erst morgen dran.”, antworte ich.

Ich fühle mich nicht alleine mit der Stresssituation. Wir treffen uns zum gemeinsamen Lernen und sprechen wichtige Strukturen durch. Mit provisorischen Notizen erklären wir uns gegenseitig Gefäßverläufe, Ausfallerscheinungen von Nerven und klinische Phänomene.
Spaßeshalber leite ich unsere Skizzen an Freunde aus höheren Semestern weiter und erkundige mich, ob sie wissen, was dargestellt werden sollte. Die Spekulationen sind teilweise ziemlich spannend, meist aber auch ziemlich daneben.
Meine Kommilitonen und ich stellen fest, dass es meist die hässlichsten Skizzen sind, die den besten Erklärungscharakter haben. Warum das so ist? Wir wissen es auch nicht.

Als wir die autochthonen Rückenmuskulatur durchsprechen, verliere ich jedoch die Nerven.
Wer meinen Anfall nachempfinden möchte, der schaut sich Ansatz, Ursprung, Innervation und Funktion der tiefen Rückenmuskulatur an.

,,Multifidus”, habe ich eine Struktur benannt gehabt, beim Präparieren.
,,Nein.”, hatte der Hiwi geantwortet. Es handele sich um den Musculus longissimus, sagte er. Ich war frustriert. ,,Ja, aber kann man die denn so “, herumgefuchtelnd in Richtung Rücken des Körperspenders, ,,überhaupt richtig unterscheiden?!” Ich war der festen Überzeugung gewesen, den Musculus multifidus identifiziert zu haben.
Der Hiwi wurde etwas verlegen und lächelte ,,Nein, so richtig lässt sich das hier nicht klar unterscheiden.”
Seufz. Ein Albtraumthema also.
Meine Freundin erkennt meine aufkommende Panik und schnappt mich an den Schultern.
,,Audrey, beruhig dich. Mach einfach weiter. Mach einfach weiter. Du hast keine andere Wahl. Einfach wiederholen. Einfach weitermachen. Sonst lernst du es nicht. Sonst bringt es nichts.”
Ihre Worte prägen sich bei mir ein.
Die nächsten Tage werde ich immer wieder an sie denken.
Es sind Tage an denen mein Durchhaltevermögen nochmals so richtig auf die Probe gestellt wird. Ich nehme an keinen Lerntreffen mehr teil, riskiere nicht, dass sich meine Freunde bei mir anstecken.
Ich schlafe den halben Tag und bin für nichts zu gebrauchen.
Aufmunternde Worte erreichen mich trotzdem. Wieder bin ich froh, so tolle Kommilitonen zu haben.
Schließlich bekomme ich Besuch von meiner Familie. Meine Mutter muss sich von mir ausführlich erklären lassen, wie verschiedene Arten von Bauchhernien entstehen. Ich löffele Suppe, während ich ihr erkläre, wie Leistenhernien und der Descensus testis zusammenhängen und weshalb Frauen eher von Schenkelhernien betroffen sind.
Womöglich bin ich als Tochter eine Zumutung, doch meine Mutter könnte nun eine indirekte von direkten Leistenhernie unterscheiden. Meine kleine Schwester muss sich einer Untersuchung des Sprunggelenks unterziehen. Ich erkläre ihr, wie sie ihren Fußpuls an der Arteria tibialis posterior und anterior (bzw. dorsalis pedis) tasten kann.
,,Na lebst du noch, hast du einen Puls?”, frage ich sie.
Wir stellen fest, dass sie einen ausgeprägten Hallux valgus hat und ich versuche nachzuvollziehen, welche Sehnenverläufe diesen begünstigen.
,,Auf keinen Fall zu enge Schuhe tragen.”, erkläre ich ihr.

Zwei Tage später ist es dann soweit.
Ich bin wahnsinnig nervös. Ich sitze mit einer Kaffeetasse auf dem Teppich, umgeben von Lernkarten.
Mir ist übel. Ich fühle mich nicht vorbereitet. Ich erwäge zum Arzt zu gehen und mir ein Attest zu holen. Doch ich will die Prüfung auch endlich hinter mich gebracht wissen.

Also fahre ich zur Universität. 16Uhr30 wäre ich dran.
,,Ihr könnt ruhig 10min später kommen, es verzögert sich alles wahnsinnig.”, schreibt eine Kommilitonin.
Ich laufe durch das Histologiegebäude.
Überall Menschen in weißen Kitteln. Medizinstudenten aus dem 3. und 5. Semester, Molmeds und Zahnmediziner. Kleine Grüppchen in gelben Kitteln. Die Hiwis.
Ich laufe zu meinem Spind. Mir geht es wirklich nicht gut. Ich krame im Rucksack nach meinem Schlüssel und höre den Studierenden zu, die sich laut neben mir unterhalten.

,,Ja weißt du, der hatte gestern schon sein Testat. Da meinte der Dozent danach zu ihm, dass er wirklich enttäuscht von ihm war….Ja haha ich weiß, ist ja nicht so, als ob er mit sich zufrieden gewesen wäre. Ich habe auch nur 2 von 6 Punkten bekommen. Einer zu wenig um zu bestehen.”
,,Ja bei dir war es aber auch echt gemein. Das war einfach nicht dein Thema. Manchmal ist es einfach Glückssache.”
,,Ja echt mies.”

Die Art und Weise, wie die Prüfung abläuft unterscheidet sich stark von Dozent zu Dozent.
In jedem Saal, gibt es für ein bis zwei Tische einen Dozenten, der die Kohorte A und B betreut. Jeder Dozent hat einen anderen (akademischen) Hintergrund und legt auf andere Inhalte oder Vorgehensweisen den Fokus. Jeder Tisch hat einen Hiwi, also einen für Kohorte A und B. Kohorte A und B werden an unterschiedlichen Tagen geprüft. In dem Fall war meine Kohorte, also Kohorte A, am zweiten Tag dran.
Ich kenne Studierende, bei denen wurden immer 5 Studierende an einen Tisch gebeten und in Anwesenheit der anderen einzeln geprüft. Im Anschluss haben sie gemeinsam die Punkte und ein kurzes Feedback verlautet bekommen. Bei anderen waren es Dreier- oder Vierer Gruppen.
Oder es lief so wie bei uns. Wir wurden einzeln hereingerufen und standen mit unserem Hiwi zwischen den zwei Tischen, die unser Dozent betreut.
Zwei Tische, zwei Körperspender. Im Vorhinein weiß man nicht, welche der Leichen auf dem Rücken und welche auf dem Bauch liegen würde.

Unser Tisch hatte allerdings vermutet, dass unsere Leiche auf dem Bauch und die vom Nebentisch auf dem Rücken liegen würde.
Allgemein hatte unser Tisch schöner gearbeitet, doch die Gluteal- und Ischiokrurale Muskulatur waren bei uns definitiv um Längen sauberer dargestellt und mobilisierbar.
Auch unsere Schulter- beziehungsweise Rückenmuskulatur war um einiges akkurater herausgearbeitet.
Dafür war Hiatus saphenus bei unseren Kollegen beeindruckend. Bei ihnen erkannte man, woher der Venenstern seinen Namen hat.
Leistenhernien haben beide Leichen. Ein klarer Grund, weshalb ich mich vor der Prüfung so viel mit diesem Themengebiet auseinandergesetzt hatte. Auf sowas muss man achten. Wenn die Leiche ein abgenutztes Kniegelenk hat, würde ich mich damit auseinandersetzen, woher sowas rühren kann. Unsere Leiche ist männlich, die der anderen weiblich. Wenn eine weibliche Körpersependerin Brustkrebs hatte, dann sollte man zusätzlich den genauen Aufbau der Mamma und über Besonderheiten des Lymphabflusssytsems der Mamma Bescheid wissen.
Prüfungsrelevante Details, auf die man bereits beim Präpen aufmerksam wird.

Nachdem ich meinen Kittel aus dem Spind geholt hatte, befestigte ich mein Namensschild an der Brust und stopfte mir ein Paar blaue Handschuhe in die Taschen. Die Schutzbrille ließ ich ausnahmsweise im Spind, schließlich würde ich nichts präparieren.
Dann ging ich in den Waschraum. Mit fahrigen Händen band ich mir die Haare zurück. Im Spiegel blickte mich eine blasse Gestalt an. Kurz fragte ich mich, ob ich mich auch einfach auf eine Lavette legen sollte. Mir war übel. Noch könnte ich zum Arzt gehen. Noch könnte ich mich darauf berufen, dass ich krank bin. Aus dem Waschraum heraus schrieb ich einer Freundin. Sie war tatsächlich dafür, dass ich zum Arzt ging.
Mein Blick fiel auf zwei Sticker an der Wand des Waschraums.

mde

Nightline, die Nummer die Studierende anrufen könnten, wenn es bei ihnen emotional beziehungsweise psychisch nicht mehr ging.
Der andere bezog sich auf potentielle Drogenprobleme.
Mir kam der Gedanke, dass man vielleicht eher etwas an dem System des generellen Leistungsdrucks des Studiengangs ändern müsste, als sich mit den Folgen zu beschäftigen.
Ich steckte das Handy in die Kitteltasche. Dann stemmte ich die Hände in die Hüften.
Supermanpose, davon hatte ich einmal gelesen. Das soll was helfen, sagen manche. Warum eigentlich Superman-Pose?  Superwoman. Zukünftige Superchirurgin, auf geht’s!
Ich verließ den Waschraum und lief die Wendeltreppe hoch, in den oberen Präpariersaal.
Ich konnte vom Eingang aus beobachten, wie meine Tischkollegin geprüft wurde. Sie standen zu weit entfernt, als dass ich etwas hätte hören können.
,,Bei ihrer Prüfung könnte es um alles gehen.“, dachte ich mir.
Dann war sie fertig.
Der Hiwi holte mich, damit ich ihren Platz einnehmen könnte.
Ich zeigte dem Dozenten wie üblich meinen Coronaimpfpass.
,,Fühlen Sie sich körperlich und geistig imstande diese Prüfung anzutreten?”
Ich blickte dem Dozenten in die Augen. Superchirurgin.
,,Ja.”


Autorin:

Audrey

Coucou, mein Name ist Audrey und ich bin eine aufgeweckte Medizinstudentin aus Freiburg!

Derzeit befinde ich mich ich im vierten Fachsemester Humanmedizin der Albert-Ludwigs-Universität. Ich bin unternehmungslustig, neugierig und nehme mich selbst meistens nicht allzu ernst. Hier schreibe ich ehrlich und ungeschönt über das Medizinstudium, das Studentenleben und so manches anderes.

Mach dir doch einfach dein eigenes Bild. Bis dann!

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