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junge Medizinstudenten prosten sich während der Vorlesung zu

Prost! Im Biochemiepraktikum

Eine Bewegung am Fenster lässt mich aufschrecken.

Nanu? Eine Dose Bier.

Mir prostet ein junger Kerl zu. Sein Freund direkt neben ihm nickt beipflichtend. Ich drehe mich um. Eine Reihe hinter mir, meine Kommiltonin zwischen allerlei Gerätschaften.

,,Kennst du die?”- ,,Was ? Ne ich kenn die genauso wenig wie du.” 

Sie zupft ihren Kittel zurecht. Na gut. Ich wende mich wieder zu meinen Kommilitoninnen neben mir. Sie brüten über ihren Protokollen. Genau wie ich. Wer uns in diesem Moment beobachtet hätte, wüsste, wie gut der Ausdruck ,,brüten” dazu passt. Die Rauchschwaden förmlich aus den Ohren kommend. 

Wenn ich gedacht habe, die Kerle wären abgezogen, so habe ich mich doch getäuscht. Die Halbstarken sind den steinernen kleinen Pfad neben der Wiese zum Eingang des Labors gewatschelt.

Nun prosten sie uns nun durch die offene Tür zu. Nanu? ,Was erlauben die sich…?’, denke ich bei mir.

,,Es wird besser. Es wird wirklich besser.”

Ein Student mehrere Reihen vor mir antwortet amüsiert. ,,Wirklich? Es wird besser?” Der Prostende hebt nochmals sein Bier. ,,Es wird besser.” Er nickt dabei so ernst, dass ich mich unweigerlich frage, wie viele davon er wohl schon getrunken hat. Ich wende mich an meine Kommilitoninnen neben mir. 

,,Frage ich mich aber auch. Wirklich? Kann es besser werden, wenn ich als Höhersemestriger mit einem Bier bewaffnet ausgerechnet an diesem Ort auftauche? Kein Ort der Freude. Hier heulen wir in unsere Reagenzgläser. Dann pipettieren wir die Tränen. Und zentrifugieren sie. Invertieren. Vortexen. Und dann bestimmen wir sie photometrisch.”

Meine Freundin kichert. Sie kennt meinen Hang zu Dramatik. Ich zwinkere ihr zu. Dann senke ich den Kopf wieder über mein Biochemie-Skript. Weiterbrüten.

Es ist das vorletzte Praktikum. Zeit sentimental zu werden .Eine Menge Praktikumstage liegen hinter uns. Zwei Semester lang. Selbst in den nervenaufreibendsten Zeiten des dritten Semesters verlangte das Labor nach uns.

Nicht weniger als 100 Prozent Anwesenheit werden verlangt. Nicht mehr als zwei Kurstage ohne Bestehen. Für jeden Praktikumstag eine kleine Spalte auf der blauen Karteikarte, die unseren Biochemie-Schein verkörpert. Den brauche ich noch. Wenn ich den nicht bekomme, kann ich mir das Physikum abschminken. Anmeldung beim LPA hin oder her. Zwei Klausuren. Zwei Semester Praktikum.

Für jeden Praktikumstag gab es drei Herausforderungen.

Erstens: die Kenntnisstandsüberprüfung. Vier von sieben Fragen musste man richtig haben. Mal waren es Fragen, die man besser schaffte, mal weniger.

Ich erinnere mich an einen Praktikumstag mit besonders Ibuprofen-würdigen Exemplaren, ausgedacht von einem übermotivierten Doktoranden. Überhitzt saß ich da. Rechnete damit, nicht ausreichend Punkte bekommen zu haben. Meine Lösungen hatte ich mir wie üblich auf den Handrücken gekritzelt, weil der Praktikumsleiter die Lösungen des schriftlichen Testats im Anschluss immer laut vorliest und man keinen Bogen zurückbekam. Ich erreichte genau vier Punkte. Ein erstes Aufatmen.

Wenn man drei Punkte hat, hat man noch zu zittern. Dann kommt es darauf an, in den kommenden Herausforderungen zu glänzen.

Wenn man nicht genug Punkte hat, bekommt man ein kleines rotes Minus auf die blaue Karte. Ob man dann zum Bleiben genötigt ist, variiert ganz nach Praktikumsleiter.

Einmal habe ich dadurch meinen Laborpartner eingebüßt. Es war am Praktikumstag des übermotivierten Doktoranden. Mit Abstand der schlimmste Kurstag. Anstrengend. Lang. Vor allem aber umfasste er irrsinnig viele Schritte.

Man stelle sich vor, wie es ist, nach drei Stunden Laboraufenthalt, einem langen Tag, Müdigkeit und Hitze. Man stelle sich vor, wie es ist, dann 7 Mikroliter klare Flüssigkeit in 96 Eppis zu pipettieren und sich bei Nummer 48 zu fragen, ob man bei 47 wirklich schon etwas hineingetan hat. Macht man im Ernstfall lieber doppelt so viel rein, oder gar nichts? ,,Doppelt hält besser.”, erwiderte einmal ein Laborpartner auf meinen Gedanken.

Es sind viele Schritte. Ich denke mir jedes Mal, dass wir uns mit dem Praktikum auch zu Sterneköchen qualifizierten. Die Versuchsdurchführung hat was vom Kochen.

3.3.1. Versuch Nr. 4.5.2. Bloß keinen Fehler machen. Nochmal von vorne anfangen geht nicht. Es sind manchmal wenige Gefäße, die immer wieder neu befüllt und weiter behandelt werden. Überstand abpipettieren. Zentrifugieren. Puffer hier, Puffer da. Ein bisschen fahrlässiger Umgang mit toxischen Substanzen. Bitte was? Ich habe nichts gesagt, wir doch nicht.
Dann den Überstand nehmen. Umfüllen. Der Rest kann weg. Weiter modifizieren das ganze. Keine Fehler machen. Zeiteffektiv arbeiten. Allgemein die Zeit im Auge behalten. Eventuell messen. Wie lange inkubiert das schon? Wie lange muss ich noch brüten?
Manchmal erfolgt die Kenntnisstandüberprüfung erst mitten im Praktikum. Beispielsweise, weil die Proben da eine halbe Stunde inkubiert werden müssen. Dann muss man bis dahin schauen, dass man eine Extrareserve Konzentration für das Testat über hat.
Wenn man dann durchfällt, ist es besonders nervig.
Wenn man dann seinen Laborpartner verliert, ist es besonders nervig.

Dann muss man alleine weiterbrüten. Was war jetzt nochmal Schritt 5668?

An der Stelle dringende Empfehlung von mir: Sich abgehakte Schritte notieren. Seien sie noch so banal. Wenn der Kopf nach vielen Stunden nicht mehr mitmacht, braucht man sowas. 

Was auch hilft: Nette Laborleiter. Ich kann von mir sagen, bei allen Kurstagen nur zwei erwischt zu haben, die ich lieber nicht erwischt hätte. Nicht selten sind welche dabei, die nur sehr gebrochen Deutsch sprechen. Ich erinnere mich an einen Kurstag, bei dem der leitende Doktorand einen derart schweren asiatischen Akzent hatte, dass ich Schwierigkeiten hatte, beim Verlauten der Lösungen des Testats folgen zu können. Es war jedoch eine Sprachbarriere, die Amüsement lieferte. Auch bei der Biochemie-Klausur hatte er Aufsicht. Auch da bescherte er mit seinem schweren Akzent Schmunzeln. Zudem war er sehr hilfsbereit. Das ist eine Sache, die ich von so gut wie jedem der Praktikumsleiter sagen kann. 

Übermüdete, gestresste Medizinstudenten, die den Faden verlieren, werden an die Hand genommen. 

Nach der Durchführung der Versuche folgt die dritte Herausforderung. Die Auswertung der Ergebnisse. Was hat man da eigentlich gemacht, mit den 96 Proben? Was? Jetzt soll man auch noch rechnen?

Jedes Mal zeichnen. Graphen. Eichgerade. Vielleicht ein Balkendiagramm.

Ich blicke zu meiner Freundin neben mir. ,,Ha! Jetzt habe ich die richtige Strategie!”, kommt es von ihr. Mehrfach hatte sie mit dem Taschenrechner herumhantiert, bis mir aufging, dass es bisher nur um die Achsenskalierung ging. Herrje.  Die Praktikumsleiter werden jetzt immer häufiger behelligt. Sie helfen in der Regel gerne weiter.

,,Ist das eine 7? Herrje! Noch seid ihr keine Ärzte, noch muss man eure Schrift lesen können!”, habe ich einmal einen sagen hören.

Bei drei Punkten hängt es bis zum Schluss am Skript, ob man ein Plus oder Minus auf die blaue Karte bekommt. Bis zum Schluss heißt manchmal auch länger bleiben, weil die Auswertung so viel Zeit in Anspruch nimmt. 

,,Bestanden?”, habe ich jedes mal gefragt.

Auch, wenn ich beim Testat nie weniger als vier Punkte hatte.

Doch bei mir hatte eine einmalige Verschiebung des Praktikums ins Online-Format seinen Tribut in Form eines Minus gefordert. Es war zu Corona-Hochzeiten, nach dem vierten Testat. Bei der Spalte, die ich in der Auswertung verrutscht bin, beim Testat allerdings 7 von 7 Punkten hatte, war es wirklich nicht mehr als Ermessenssache, ob ich bestehe oder nicht. Im Präsenzformat hätte ich nie ein Minus dafür bekommen. Ein gewisser Frust war da schon da.

So stressig das Tohuwabohu stets war, so unglaublich froh bin ich doch, dass es (mit einmaliger Ausnahme) in Präsenz stattgefunden hat. Ich denke, dass die Laborarbeit definitiv einen Mehrwert für uns hatte.

Aber ein Minus auf der blauen Karte, das bescherte mir jedes Mal Extradruck. 

,,Bestanden?” Wir erinnern uns: zweimal Minus Schmerzensgrenze. Sonst muss man das Biochemiepraktikum in den kommenden Semestern komplett nachholen.

Physikum Tschüss. 

Mit dem Bestehen des vorletzten Kurstages steht mir zumindest nicht mehr das Praktikum im Weg. Noch einen weiteren Kurstag habe ich vor mir, doch der Schein hängt nicht mehr davon ab. 

Jetzt liegt es an der zweiten BC-Klausur. Und wenn man die nicht besteht, an der mündlichen Nachprüfung.

Es ist im übrigen nicht auszuschließen, dass die Prüfer vor besagter mündlicher Prüfung einen Blick auf die blaue Karte werfen. Wie war die Punktzahl der ersten Klausur? Wie lief es beim Praktikum? Hat jemand rein zufällig genau die letzten beiden Kurstage nicht bestanden, quasi mit Absicht die Schmerzensgrenze ausgenutzt? Man kann es nicht ausschließen. Einer der Laboranten hat uns ausdrücklich davor gewarnt.

Nun ja. Zwei Scheine to-go.

,,Es wird besser. Prost.”

Hoffen wir’s.


Autorin:

Audrey

Coucou, mein Name ist Audrey und ich bin eine aufgeweckte Medizinstudentin aus Freiburg!

Derzeit befinde ich mich ich im vierten Fachsemester Humanmedizin der Albert-Ludwigs-Universität. Ich bin unternehmungslustig, neugierig und nehme mich selbst meistens nicht allzu ernst. Hier schreibe ich ehrlich und ungeschönt über das Medizinstudium, das Studentenleben und so manches anderes.

Mach dir doch einfach dein eigenes Bild. Bis dann!

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